(K)ein normaler 600er

Autor
Martin
Datum
26.08.2019

Wenn bereits, wie kurz vor dem diesjährigen 600 km Jura Brevet von ARA Breisgau, eine der größten deutschen Tageszeitungen über diese Art des Radfahrens berichtet kann es wohl nicht mehr lange dauern bis sich auch die Youtuber Szene diesem Phänomen annimmt und kurz darauf Heerscharen junger Teilnehmer, unbemerkt von Organisatoren über Twitter und Instagram verabredet, sich zum morgendlichen Briefing einfinden und eine Teilnahme fordern. Noch ist es nicht so weit, noch ist es eine eher familiäre Stimmung, wenn am Samstagmorgen, kurz vor acht, die Organisatoren die Teilnehmer mit wenigen Worten auf die Fahrt mit vielen Kilometern, sechshundert, vorbereiten. Bei dem Hinweis, dass die Getränke nach dem Brevet nicht in der Teilnahmegebühr inbegriffen seien wird herzlich gelacht und zumindest für einen Moment scheinen alle zu vergessen, dass eben gut 600 Kilometer mit knapp 6.000 Höhenmeter (in maximal 40 Stunden) uns von den besagten Getränken nach dem Brevet trennen. Es ist gut mit Leichtigkeit zu starten, wird doch die Schwere unweigerlich auf jeden von uns in den nächsten zwei Tagen zukommen.

Mit Leichtigkeit schwangen mein Kompagnon und ich uns also um 08:00 auf die Räder… schnell loskommen, um in einer großen Gruppe gut durch den Gegenwind zu kommen der uns auf den ersten 60 km erwarten sollte war die Devise. Schnell kamen wir auch los, schnell durchquerten wir die Freiburger Stadtteile Wiehre, Vauban und Merzhausen und schnell kamen wir nach dem Ortsausgang Freiburg zu stehen – Platten, bei km 5, von 607.

Was danach passierte bietet Stoff für ein Drama, ist aber nicht Inhalt dieses Berichts. Auf jeden Fall waren wir froh als wir gegen 11:00, mit knapp 2 h Stunden Rückstand endlich den Rhein überquerten, um dann allein gegen den Wind zu fahren. Der Vollständigkeit halber sei hier nur Folgendes erwähnt 3 Platten, 1 kaputte Pumpe, Besuch eines Radgeschäfts, 1 leere Batterie einer elektrischen Schaltung und ja auch aufgeriebene Nerven aber auch herzliches Lachen. Spätestens als wir dann um 11:45, 15 min vor Kontrollschluss, den ersten Stempel in unser Heftchen erhielten war klar, dass nicht nur der Start dieses Brevets außergewöhnlich war, sondern auch die restliche Strecke anders verlaufen werde da wir wohl noch lange, weit abgeschlagen, dem Feld hinterherzufahren hatten.  Wobei „anders“ hier nicht suggerieren soll, dass es für mich auch „normale“ 600er Brevets gibt, bei denen die Strecke ganz ohne Höhen und Tiefen „einfach“ gefahren wird – dafür sind 600 km einfach zu lang. Auf jeden Fall waren wir guter Dinge und arbeiteten uns so durch das Sundgau und empor in die Höhen des Juras, zumindest bestand keine akute Gefahr in einer zu starken Gruppe zu überpacen.

Ausblick im Jura

In der ersten Pause, in Le Reussilles (km 147), stärkten wir uns mit Baguette und Käse einer lokalen Frommagerie für die letzten Aufstiege zum Col de la Vue des Alpes (km 176). Auf kleinsten Sträßchen und Wirtschaftswegen ging es hinauf und nur die letzten 3 km mussten wir die Hauptstraße nehmen. Trotz des grandiosen Alpenpanoramas, zum ersten Mal an dieser Stelle, machten wir keine lange Pause - zum einen weil wir uns auf das folgende Hochtal von La Sagne freuten, zum anderen um noch möglich weit zu kommen bevor wir für eine letzte Mahlzeit vor der Nacht einzukehren gedachten. Nach der nächsten Kontrolle im erstaunlich frequentierten Motiers erklommen wir noch den Col des Etroits dessen Passhöhe wir mit fünf weiteren Randoneuren erreichten und auf welchem wir uns vor der Abfahrt die warmen Sachen überzogen. Die Kälte der Nacht kündigte sich bereits an. Auf der Abfahrt fand ich mich, wie meist bei den Abfahrten, am Ende unserer kleinen Gruppe wieder. Somit war ich wohl auch der Einzige, der das Reh zu Gesicht bekam, welches vor mir die Straße überquerte, stehen blieb, und mich irritiert anblickte. Ich hoffe es störte sich nicht an Radlern denn im Tal kamen mir auf einmal etliche Fahrer entgegen die ähnlich bepackt wie wir den Col von der anderen Seite erklommen – im Nachhinein stellte sich heraus dass wohl auf einer 1215 km langen Fahrt von Montmédy nach Ramatuelle waren ( http://chilkoot-cdp.com/project/btr-2019/ ). Wenn man schon in den Höhen des französischen Juras weitere Langstreckenradler trifft bedarf es vielleicht gar nicht mehr der Youtuber, um unserem Hobby zur Prominenz zu verhelfen… Noch herrschen jedoch keine „Ötztalerverhältnisse“ und eh wir uns versehen hat sich auch die Gruppe um uns beide wieder aufgelöst und wir radelten wieder zu zweit in die Nacht.

Dass die Versorgung im Jura eine zentrale Herausforderung dieses Brevet ist war uns bewusst und so waren wir tatsächlich froh, dass wir in Vallorbe (km 250) noch ein orientalisches Restaurant fanden, welches uns etwas zubereitete. Wichtiger als das Essen war es uns noch einmal in der Wärme Kraft vor der Nacht zu schöpfen da es bereits erheblich abgekühlt hatte und wir uns auch in den nächsten Stunden weiterhin auf über 800 m und unter 10° bewegen sollten. Der Wirt, der wohl nicht damit rechnete, dass wir gedachten noch viele Stunden durch die Nacht zu radeln, setzte uns dann allerdings vor die Tür, um zu schließen. Vielleicht waren es unsere wohl schon müden Blicke, vielleicht die Kälte, die er spürte als er kurz vor die Tür trat die ihn umstimmten und er uns wieder hinein in die Wärme ließ – ihm sei gedankt. Obwohl wir ihn nicht lange von seinem wohlverdienten Feierabend abhielten fuhr mein Kreislauf komplett hinunter und ich zitterte als ich wieder das Rad bestieg. Glücklicherweise war auch diesmal die Hilfe nicht weit, der nächste Anstieg zum Mount D'Orzieres (km256) begann bereits im Ort und brachte schnell die ersehnte Wärme.

Danach umrundeten wir den schönen Lac de Joux, stempelten ordnungsgemäß am Bahnhof in Le Sentier (km 270) unsere Kontrollkarte und machten uns an die verbliebenen Höhenmeter zum Col Du Landoz-Neuve (km 285). Die Abfahrt war erwartungsgemäß kalt aber zum Glück nicht zu lang so dass wir auf eine Pause zum Aufwärmen im EC Hotel in Mouthe verzichten konnten – wollten wir doch bis zum tief gelegenen Salins Le-Bain (km 340) kommen, in der Hoffnung, dass es dort wärmer ist. Unterwegs fuhren wir noch zwei weiteren Fahrern auf mit denen wir gegen 03:00 tatsächlich Salins Le-Bain erreichten, selbst hier unten hatte es nur 6° und eine offene Bank haben wir nicht getroffen. Dafür begegneten uns zwei weitere Randoneure die soeben aus dem Casino kamen, und damit ist nicht die französische Supermarktkette gemeint, sondern tatsächlich ein Casino - warum nicht. Leider war das Glück diesmal nicht mit den Tüchtigen und so schlossen wir am Ende in einer zumindest windgeschützten und ruhigen Passage unsere Augen. Unsere Begleiter hielt es dort nicht lange und so starteten wir zu zweit nach einer knappen Stunde in den nächsten Anstieg, der wieder die ersehnte Wärme brachte und an dessen Enden uns im Osten die Sonne begrüßte. Eine Bäckerei fanden wir dann im schönen Ornans (km 380). Noch immer war es so frisch, dass der Fußboden der warmen Bäckerei uns gemütlicher als ein Bänkchen am Ufer der Loue erschien.

OrnansGestärkt ging es dann in die wunderschöne Gourge de la Loue mit deren Ende wir dann, nach der vielen Buckelei in den letzten Stunden, tatsächlich auch den letzten signifikanten Anstieg dieses Brevet hinter uns lassen konnten.

Gorge de la LoueDas erleichterte zwar die Aussicht auf den angebrochenen Tag, doch mit 200 verbliebenen Kilometern war es noch zu früh für Freudensprünge. Für 30 km folgten wir der Dessoubre hinab bis zu ihrer Mündung in den Doubs in St Hippolyte (km 460) wo es dann endlich den lang ersehnten Kaffee gab. Die Menge an Alkohol die in der gewählten, prallgefüllten Lokalität bereits bis Mittag konsumiert wurde hat mich nicht weniger beeindruckt als die Gäste wohl  von unserer absolvierten Strecke beeindruckt wären - ich bleibe aber gerne bei meiner Herausforderung.

Die verbliebenen zähen und langen 150 km sind in einem nicht weniger zähen und langen Text beschrieben welcher. Der Leser möge es mir danken, dass ihm, anders als uns auf dem Rad, dieses Ende aber erspart bleibt und dieser Bericht hier, so wie irgendwann tatsächlich auch unser Brevet, endet.